Die aktuell wirksamen Verbote liegen zweifelsohne nicht im Einflussbereich der Vertragspartner, sodass es sich für sie um ein externes Ereignis handelt. Es lässt sich mit Gewissheit sagen, dass die aus den Ver- boten erwachsende Unmöglichkeit der Vertragserfül- lung derzeit nicht von den Vertragspartnern beseitigt werden kann. Bei Verstößen gegen diese Verbote dro- hen den Vertragspartnern sogar strafrechtliche Sanktio- nen. Somit liegt die Unabwendbarkeit der Schwierigkei- ten der Vertragserfüllung vor. Es muss dann noch die Voraussetzung der Unvorher- sehbarkeit vorliegen. Hier kommt es auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses an: Für Verträge, die vor dem Ausbruch der Coronavi- rus-Pandemie abgeschlossen wurden, ist eindeutig, dass das Ereignis zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses unvor- hersehbar war. Für Verträge hingegen, die im Laufe des ersten Quar- tals 2020 und danach abgeschlossen wurden, wird die Rechtsprechung, nach unserem Dafürhalten, eher zu- rückhaltend dabei sein, Unvorhersehbarkeit, und damit einen Fall höherer Gewalt, anzunehmen. Welches sind die Rechtsfolgen der höheren Gewalt? Das Vorliegen höherer Gewalt befreit diejenige Vertrags- partei, die an der Ausführung ihres Vertrages gehindert wird, von ihrer vertraglichen Pflicht, sodass zum Beispiel dann auch kein Schadensersatzanspruch (wegen Nicht- leistung oder Zuspätleistung) gegen die Vertragspartei geltend gemacht werden kann. Kann ich mich in jedem Fall auf das Vorliegen höherer Gewalt berufen? Nein. Das Prinzip der höheren Gewalt ist keine zwin- gende Rechtsvorschrift des französischen Rechts. Das bedeutet, dass die Parteien eines Vertrages stets die Möglichkeit haben bzw. hatten, in ihrem Vertrag zu ver- einbaren, dass die gegenseitigen Verpflichtungen auch bei Vorliegen höherer Gewalt zu erfüllen sind. Daher sollte unbedingt im Text des Vertrages geprüft werden, ob die Rechtsfolgen höherer Gewalt vertraglich ausgeschlossen sind oder nicht. Wenn das Vorliegen von höherer Gewalt bestätigt ist, befreit mich dies dann von meinen vertraglichen Pflichten? Das Vorliegen höherer Gewalt setzt die Erfüllung derje- nigen Vertragspflichten vorübergehend aus, die von ihr konkret betroffen sind, falls die Verhinderung der Ver- tragserfüllung nur temporär ist. In diesem Fall ist die ak- tuell verhinderte Vertragserfüllung nachzuholen, sobald die höhere Gewalt nicht mehr besteht. Falls jedoch die Verhinderung der Vertragserfüllung end- gültig ist (Beispiele: Untergang der zu liefernden Waren), kann der Vertrag aufgehoben werden, sodass die beiden Vertragsparteien dann nicht mehr verpflichtet sind, den Vertrag zu erfüllen. Insgesamt ist jedoch folgender Punkt wesentlich: Entgegen verschiedener Veröffentlichungen in der Pres- se kann nicht allgemein gesagt werden, dass ein Ereignis (hier: Coronavirus-Pandemie) ein Fall höherer Gewalt ist. Ob ein Fall höherer Gewalt vorliegt, muss in jedem Ein- zelfall, d. h. für jeden Vertrag individuell geprüft und ermittelt werden und erfordert stets eine Betrachtung derjenigen Leistungspflicht, um die es konkret geht. Die Rechtsprechung in Frankreich ist sehr zurückhaltend bei der Annahme höherer Gewalt. So wird das Vorliegen höherer Gewalt in der Regel verneint, wenn die Ausfüh- rung der vertraglich vereinbarten Leistung durch das Er- eignis nicht unmöglich geworden, sondern „nur“ wesent- lich kostenintensiver und schwieriger zu realisieren ist. So hat der französische Kassationsgerichtshof bereits entschieden, dass die Reduzierung der Produktion durch den Lieferanten für sich allein keinen Fall der höheren Gewalt darstellt (Entscheidung des französischen Kassa- tionsgerichtshofs für Zivilsachen vom 12. Juli 2001, Nr. 99-18.231). Auch bei den Rechtsfolgen der höheren Gewalt hat sich die französische Rechtsprechung bisher eher zurückhal- tend positioniert, und zwar betreffend Geldschulden (Zahlungsverpflichtungen): Das Vorliegen höherer Ge- walt kann einen Schuldner, der eine Geldsumme schul- det, nicht von seiner vertraglichen Verpflichtung der Zahlung befreien (Entscheidung des französischen Kas- sationsgerichtshofs für Handelssachen vom 16. Septem- ber 2014, Nr. 13-203.06). Die Frage, ob ein Fall höherer Gewalt tatsächlich vorliegt und die Frage, welche Rechte sich ggf. daraus ergeben, kann also nur für jeden Vertrag im Einzelfall beantwortet werden. Unsere Kanzlei steht Ihnen, auch kurzfristig, zur Verfü- gung, um Ihren individuellen Vertrag zu prüfen und Sie bezüglich Ihrer konkreten Rechte zu beraten sowie eine optimierte Handlungsempfehlung für die weitere Vorge- hensweise zur Verfügung zu stellen. 20 Sonderausgabe Corona-Pandemie