Beginn der Verjährungsfrist nach französischem Recht bei einer Geldforderung – Ausnahme vom Grundsatz der sofortigen Anwendbarkeit einer neuen Rechtsprechung
Eine neue Rechtsprechung hat zu einer Änderung bei der Berechnung der Verjährungsfrist in Frankreich geführt.
Dabei hat sich auch die Frage gestellt, ob diese neue Berechnungsweise auch auf solche Sachverhalte anwendbar ist, bei denen die Verjährungsfrist bereits am Laufen, aber noch nicht abgelaufen ist.
In Frankreich besteht der Grundsatz, dass ein neues Gesetz ab seinem Inkrafttreten umgehend anwendbar wird.
Damit findet das Gesetz auf alle Sachverhalte Anwendung, die sich ab seinem Inkrafttreten ereignen.
Daneben besteht ein Rückwirkungsverbot, d. h. ein neues Gesetz darf grundsätzlich nicht auf bei seinem Inkrafttreten bereits existierende Sachverhalte angewendet werden.
Der Grundsatz der sofortigen Anwendbarkeit gilt auch für neue Rechtsprechungen. Auf gerichtlich noch nicht entschiedene Sachverhalte ist daher eine in einem anderen Verfahren ergangene Rechtsprechung grundsätzlich anzuwenden.
Allerdings weicht der französische Kassationsgerichtshof (höchstes französisches Gericht, Revisionsgericht) in bestimmten Fällen von diesem Grundsatz der sofortigen Anwendung neuer Rechtsprechung ab, nämlich dann, wenn eine sofortige Anwendung dazu führen würde, dass einer Prozesspartei ein „faires Verfahren“ im Sinne von Artikel 6 § 1 der EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention) versagt würde.
So lag der Fall in einer kürzlich ergangenen Entscheidung des französischen Kassationsgerichtshofs vom 19. Mai 2021 (Cour de cassation, 1. Zivilkammer, 19. Mai 2021, Entscheidung Nr. 20-12.520), die den Beginn der Verjährungsfrist bei einer Geldforderung betraf.
Die Frage des Beginns der Verjährungsfrist eines Zahlungsanspruchs wurde nach einer Entscheidung des Kassationsgerichtshofs vom 26. Februar 2020 (Cour de cassation, Handelskammer, 26. Februar 2020, Entscheidung Nr. 18-25.036) Gegenstand einer Umkehr in der Rechtsprechung.
Bis zum 26. Februar 2020 geltende (alte) Rechtsprechung
Die Dauer der Verjährungsfrist betrug dabei gegenüber Verbrauchern 2 Jahre (Artikel L. 218-2 des Code de la consommation; französisches Verbraucherschutzgesetz) und gegenüber Unternehmen 5 Jahre (Artikel L. 110-4 des Code de commerce; französisches Handelsgesetzbuch). Dieser Punkt hat sich nicht geändert.
Der Zeitpunkt des Beginns der Verjährungsfrist bei einer Zahlungsforderung war, bis zur Entscheidung des Kassationsgerichtshofs am 26. Februar 2020 (Cour de casssation, Handelskammer, 26. Februar 2020, Entscheidung Nr. 18-25.036) definiert auf den Tag der Rechnungsstellung durch den Unternehmer.
Seit dem 26. Februar 2020 geltende Rechtsprechung
In seiner Entscheidung vom 26. Februar 2020 hat der französische Kassationsgerichtshof im Rahmen eines Streits zwischen zwei Unternehmen folgende neue Lösung angewendet:
Die Verjährungsfrist bei einer Geldforderung beginnt demnach in dem Zeitpunkt zu laufen, in dem der Gläubiger Kenntnis von den Tatsachen hat, die seinen Anspruch begründen. Dieser Zeitpunkt ist identisch mit dem Zeitpunkt, in dem der Gläubiger (Unternehmer) seine Leistung vollständig erbracht hat.
Diese neue Definition des Verjährungsbeginns ist, so das höchste Zivilgericht in Frankreich, aus Gründen der Rechtseinheit, auch auf Verjährungsfristen bei Ansprüchen gegen Verbraucher anwendbar.
In seinem oben erwähnten Urteil vom 19. Mai 2021 hat der französische Kassationsgerichtshof entschieden, dass die Rechtsprechung vom 26. Februar 2020, d. h. die daraus folgende Regel hinsichtlich des Verjährungsbeginns, trotz des Grundsatzes der sofortigen Anwendbarkeit neuer Rechtsprechung nicht auf einen im Dezember 2015 begonnenen Rechtsstreit anwendbar ist:
Zur Begründung dieser Entscheidung wurde hervorgehoben, dass eine Anwendung der Rechtsprechung vom 26. Februar 2020 (= Beginn des Laufs der Verjährungsfrist mit vollständigen Erbringung der Leistung) auf den vorliegenden Fall die Rechtsposition der Parteien, die in gutem Glauben gemäß dem zum Zeitpunkt ihres Handelns geltenden Recht gehandelt hatten, beeinträchtigen würde. Da die Parteien eine solche Umkehr der Rechtsprechung nicht vorhersehen konnten, würde die Anwendung der neuen Rechtsprechung ihr Recht auf ein faires Verfahren im Sinne von Artikel 6 § 1 EMRK verletzen.
Das Wichtigste für Sie in Kürze:
Grundsätzlich beginnt die Verjährungsfrist bei einem Vertragsverhältnis zwischen Unternehmen im Zeitpunkt der vollständigen Erbringung der Leistung (Entscheidung des französischen Kassationsgerichtshofs vom 26. Februar 2020).
Dies gilt unter bestimmten Umständen jedoch nicht für Sachverhalte, die bereits vor dem 26. Februar 2020 bereits bestanden, wenn bei ihnen im Einzelfall nicht mit einer Änderung der Rechtsprechung gerechnet werden musste.
Für weitere Informationen stehen Ihnen unsere deutsch-französischen Rechtsanwälte selbstverständlich gerne zur Verfügung.
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