EuGH: Missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung (Verdrängungspraktiken)
Klarstellung des EuGH (Europäischer Gerichtshof) zu den Kriterien für die Bewertung einer Handlung als missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung im Rahmen von Verdrängungspraktiken
Urteil des EuGH (Europäischer Gerichtshof) vom 12. Mai 2022 (Rechtssache
C-377/20, Servizio Elettrico Nazionale u. a.)
In dieser Angelegenheit, die vor dem Hintergrund der schrittweisen Liberalisierung des Marktes für den Verkauf von elektrischer Energie in Italien entschieden wurde, präzisiert der Gerichtshof
- die Merkmale, die geeignet sind, den Tatbestand der missbräuchlichen Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung zu erfüllen,
- die Beweispflicht hinsichtlich der Tatsache, dass die vom Marktteilnehmer angewendete Praxis geeignet ist, wettbewerbswidrige Wirkungen zu erzeugen,
- die Merkmale, die es ermöglichen, missbräuchliche von rechtmäßigen Praktiken zu unterscheiden,
- die Haftung der Muttergesellschaft für die missbräuchlichen Praktiken ihrer Tochtergesellschaft.
Zum Beweis des Missbrauchs einer markbeherrschenden Stellung muss der Nachweis geführt werden, dass die Praxis des Unternehmens, welches eine marktbeherrschende Stellung innehat, geeignet ist, den effektiven Wettbewerb zu stören, und zwar dadurch, dass das Unternehmen andere Ressourcen oder Mittel einsetzt als diejenigen, die einen „normalen Wettbewerb“ für gewöhnlich ausmachen. Dazu muss nicht nachgewiesen werden, dass die Praxis des Unternehmens darüber hinaus auch das Potenzial hat, Verbrauchern unmittelbar Schaden zuzufügen.
Im vorliegend entschiedenen Fall bestand das problematische Verhalten des Unternehmens darin, dass es zu einer Verdrängung von Wettbewerbern führte.
Der Gerichtshof weist darauf hin, dass eine missbräuchliche Verdrängungspraxis eines Unternehmens in marktbeherrschender Stellung dann vorliegt, wenn es andere Mittel oder andere Ressourcen verwendet als jene, die einen Leistungswettbewerb für gewöhnlich kennzeichnen.
Vor diesem Hintergrund muss ein Unternehmen, das sein bestehendes gesetzliches Monopol auf einem Markt verliert, während der gesamten Phase der Liberalisierung dieses Marktes davon absehen, diejenigen Mittel oder Methoden einzusetzen, die ihm im Rahmen seines früher bestehenden Monopols zur Verfügung standen, während sie zu jener Zeit für seine Konkurrenten nicht verfügbar waren. Auf dieses Weise soll verhindert werden, dass dieses Unternehmen auf dem gerade liberalisierten Markt auf andere Weise als durch eigene Leistung (erneut) eine marktbeherrschende Stellung erlangt.
Das Unternehmen kann den Missbrauchsvorwurf entkräften, wenn es ihm gelingt nachzuweisen, dass seine Praxis ausgeglichen wird durch Vorteile in der Effizienz, welche auch den Verbrauchern zugutekommen.
Die Haftung der Muttergesellschaft wegen missbräuchlicher Praktiken ihrer Tochtergesellschaft
Auf die Frage eines nationalen Gerichts nach den Voraussetzungen für die Haftung der Muttergesellschaft für das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft entschied der EuGH wie folgt:
Beim Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung durch eine oder mehrere Tochtergesellschaft(en), die gemeinsam mit ihrer Muttergesellschaft zu einer wirtschaftlichen Einheit gehören, genügt allein die Existenz dieser wirtschaftlichen Einheit, um anzunehmen, dass auch die Muttergesellschaft für diesen Missbrauch (mit-) verantwortlich ist.
Das Bestehen einer solchen wirtschaftlichen Einheit wiederum ist gemäß dem EuGH dann anzunehmen, wenn (im Zeitpunkt der durchgeführten Handlung) mindestens „fast das gesamte Kapital“ der betroffenen Tochtergesellschaft(en) direkt oder indirekt von der Muttergesellschaft gehalten werden.
Dieses Kriterium der Kapitalbeteiligung gilt als „Richtschnur“ für die Entscheidung des Gerichts. In der Praxis obliegt es dann dem betroffenen Unternehmen, durch vorgetragenen Sachverhalt zu argumentieren, dass eine wirtschaftliche Einheit tatsächlich nicht besteht, d. h. dass die jeweilige Tochtergesellschaft autonom handelt bzw. handelte.
Für weitere Informationen stehen Ihnen unsere deutsch-französischen Rechtsanwälte selbstverständlich gerne zur Verfügung.
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