Gewerblicher Mietvertrag in Frankreich: Deckelung der Besitzentzugsentschädigung?
Beim Gewerbemietvertrag in Frankreich (bail commercial) steht dem Mieter ein recht starkes, eigentümerähnliches Nutzungsrecht zu. Das französische Handelsgesetzbuch räumt dem Mieter sogar ein Recht auf Verlängerung des Mietvertrages ein.
Daneben steht dem Mieter ein Entschädigungsanspruch (indemnité d’éviction) (Besitzentzugsentschädigung) zu, falls der Vermieter ihm die Verlängerung des Mietvertrags bei dessen Ablauf verweigert, es sei denn die Verweigerung beruht auf einer Vertragsverletzung durch den Mieter (Artikel L. 145-14 des französischen Handelsgesetzbuchs).
Die Entschädigung soll den Schaden, der dem Mieter aufgrund der ausbleibenden Erneuerung des gewerblichen Mietvertrages entsteht, wiedergutmachen.
Artikel L. 145-14 Absatz 2 des französischen Handelsgesetzbuchs bestimmt, dass diese Entschädigung insbesondere den Marktwert des Geschäftsbetriebs (fonds de commerce) des Mieters berücksichtigt, der entsprechend der geltenden Praxis im jeweiligen Berufsstand ermittelt wird und gegebenenfalls erhöht wird um die üblichen Um- und Einzugskosten sowie um die Gebühren, die für die Verlagerung eines Geschäftsbetriebs desselben Wertes zu zahlen sind – es sei denn, der Eigentümer (Vermieter) kann nachweisen, dass der dem Mieter entstehende Schaden tatsächlich geringer ist.
Einige Vermieter waren der Ansicht, dass diese Bestimmung gegen französisches Verfassungsrecht verstieß, nämlich
- gegen das Eigentumsrecht, da das Fehlen einer Deckelung bei der Entschädigung dazu führen kann, dass im konkreten Fall eine Entschädigung zu zahlen ist, die den Verkehrswert der Räumlichkeiten übersteigt und
- gegen den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz.
Mit einer Entscheidung vom 10. Dezember 2020 hat der französische Kassationsgerichtshof (etwa: französischer BGH) dem französischen Verfassungsrat (etwa: französisches Bundesverfassungsgericht) die Frage der Verfassungsmäßigkeit vorgelegt, damit dieser prüfen möge, ob Artikel L. 145-14 des französischen Handelsgesetzbuchs verfassungsgemäß ist.
Der Verfassungsrat hat diese Frage der Verfassungsmäßigkeit in seiner Entscheidung vom 5. März 2021 (Nr. 2020-887 QPC) wie folgt beantwortet:
1. Zum Verstoß gegen das Eigentumsrecht
Der Verfassungsrat hat erkannt, dass Artikel L. 145-14 des französischen Handelsgesetzbuchs das Recht des Vermieters einschränkt, nach Ablauf des Mietvertrags frei über sein Eigentum zu verfügen und dass dies den Vermieter tatsächlich in seinem Eigentumsrecht verletzen könne.
Andererseits hat der Verfassungsrat auch festgestellt, dass diese Bestimmung den Mietern von gewerblichen Mietverträgen die Fortführung ihrer Tätigkeit ermöglicht und verhindern soll, die Existenz von Gewerbe- und Handwerksbetrieben zu gefährden.
In dieser Hinsicht verfolgt Artikel L. 145-14 des französischen Handelsgesetzbuchs ein im Allgemeininteresse bestehendes Ziel (Gemeinwohlinteresse).
Der Verfassungsrat hat außerdem festgestellt, dass Artikel L. 145-14 des französischen Handelsgesetzbuchs bestimmt, dass die geschuldete Entschädigung dem Schaden entsprechen muss, der durch die Nichtverlängerung des Mietvertrags tatsächlich erlitten wurde. Daher umfasse der Entschädigungsanspruch nur demjenigen Anteil des Marktwerts des Geschäftsbetriebs, der dem Mieter durch den Verlust seines gewerblichen Mietvertrages tatsächlich entgangen ist.
Darüber hinaus wies der Verfassungsrat darauf hin, dass diese Entschädigung gemäß Artikel L. 145-17 des französischen Handelsgesetzbuchs nur unter der Voraussetzung geschuldet sei, dass der Mieter seinen Geschäftsbetrieb während der drei Jahre vor dem Ablauf des Mietvertrags tatsächlich gemäß den Vertragsbestimmungen betrieben hat.
Schließlich führt der Verfassungsrat aus, dass der Vermieter in jedem Fall die Möglichkeit behält, sein Eigentum zu verkaufen oder daraus Miete zu beziehen.
Daher entschied der Verfassungsrat, dass die Bestimmung des Artikels L. 145-14 des französischen Handelsgesetzbuchs das Eigentumsrecht des Vermieters im Hinblick auf das im Allgemeininteresse stehende Ziel nicht in unverhältnismäßiger Weise verletzt.
2. Zum Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz
Zu diesem Punkt führte der Verfassungsrat aus, dass der in Artikel 6 der französischen Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 verankerte Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz den Gesetzgeber nicht daran hindere, unterschiedliche Sachverhalte auf verschiedene Arten und Weisen zu regeln. Ferner sei der Gesetzgeber auch nicht daran gehindert, aus Gründen des Allgemeininteresses von der Gleichheit abzuweichen, sofern die unterschiedliche Behandlung in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Zweck des Gesetzes steht.
Der Verfassungsrat stellte fest, dass die Tatsache, dass die Besitzentzugsentschädigung, die nach den geltenden Gebräuchen des jeweiligen Berufsstandes zu bestimmen ist, keine Ungleichbehandlung begründet.
Andererseits ist der Verfassungsrat der Ansicht, dass sich der Mieter eines gewerblichen Mietvertrages in einer anderen Situation befindet als ein Mieter eines Mietvertrages über Räumlichkeiten, in denen kein Geschäftsbetrieb (fonds de commerce) betrieben wird.
Folglich entspreche die Ungleichbehandlung, die sich aus der Tatsache ergibt, dass bei einer Nichtverlängerung des Mietvertrages nur ein gewerblicher Mieter in den Genuss einer Besitzentzugsentschädigung kommen soll, dem Zweck des Gesetzes und verstoße nicht gegen den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz.
Aus diesen Gründen hat der französische Verfassungsrat entschieden, dass der in Artikel L. 145-14 des französischen Handelsgesetzbuchs enthaltene Passus „umfasst insbesondere den entsprechend den geltenden Gebräuchen des Berufsstands festgelegten Marktwert des Geschäftsbetriebs“ in Bezug auf die Besitzentzugsentschädigung mit der französischen Verfassung im Einklang steht. Die Forderung einer Deckelung der Besitzentzugsentschädigung wurde somit abgewiesen.
Für weitere Informationen stehen Ihnen unsere deutsch-französischen Rechtsanwälte selbstverständlich gerne zur Verfügung.
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