Übersicht über die Rechtsprechung zum Gewerbemietrecht während der Corona-Pandemie
Vor dem aktuellen Hintergrund der Corona-Pandemie bewegt seit fast einem Jahr eine Frage die französische Rechtslehre und Rechtsprechung: Inwieweit sind Unternehmen, denen aufgrund behördlicher Maßnahmen jeglicher Publikumsverkehr untersagt ist, verpflichtet, die Mieten für ihre gewerblichen Mieträume zu zahlen?
Der französische Gesetzgeber hat versucht, diese Frage teilweise zu beantworten, indem er hintereinander zwei Gesetze verabschiedet hat, deren wichtigste Maßnahmen in Bezug auf gewerbliche Mietverträge bereits in zwei früheren Beiträge unserer Kanzlei dargelegt wurden:
- Französisches Gesetz vom 23. März 2020 Nr. 2020-290
- Französisches Gesetz vom 14. November 2020 Nr. 2020-1379 (Artikel 14)
Trotz dieser Versuche des Gesetzgebers, Streitigkeiten vorzubeugen, kann er nicht direkt in den Vertrag eingreifen und die Vertragspflichten ändern. Diese Gesetze sehen daher nur das Verbot der Verhängung von Sanktionen gegen den Mieter vor, nicht aber die Aussetzung der Mietzahlungspflicht selbst.
Der Forderungsverzicht von Vermietern wird zwar durch die Zusage einer Steuergutschrift gefördert, ist aber nicht verpflichtend, so dass es immer wieder zu Rechtsstreitigkeiten über die Zahlung von gewerblichen Mietzahlungen kommt.
Mieter von Gewerberäumen berufen sich alternativ und mit unterschiedlichem Erfolg auf folgende Institute des Rechts: Höhere Gewalt, Störung der Geschäftsgrundlage, Grundsatz von Treu und Glauben oder Verlust der Mietsache.
1. Höhere Gewalt
Zum Argument der höheren Gewalt gibt es auf Berufungsebene zwei wesentliche Urteile.
In einem Fall, der vor dem Berufungsgericht Paris verhandelt wurde (Entscheidung Nr. 20/05041 vom 9. Dezember 2020), hatte der gewerbliche Mieter aufgrund der Gelbwestenkrise und der Streiks im öffentlichen Transportwesen seine Miete seit 2019 nicht mehr gezahlt. Der Vermieter hatte ihn daraufhin im Eilverfahren auf Zahlung der rückständigen Miete und Zwangsräumung der Räumlichkeiten verklagt.
Am 5. Februar 2020 begründete der Richter für einstweiligen Rechtsschutz in ersten Instanz seine Entscheidung damit, dass kein ernsthafter Einwand gegen die Verpflichtung zur Mietzahlung vorliege und verurteilte den Mieter zur Zahlung der Miete, während er die Zwangsräumungsmaßnahme aussetzte und ihm eine 12-monatige Frist zur Begleichung seiner Schulden einräumte.
Der Mieter legte daraufhin Berufung ein und beantragte beim Berufungsgericht Paris unter Geltendmachung höherer Gewalt (Artikel 1218 des französischen Zivilgesetzbuchs), dass die Miete für den Zeitraum vom 17. März bis zum 11. Mai 2020 um 100 % und ab Mai 2020 bis zum Ende der Pandemie um 30 % reduziert werden solle.
In seiner Entscheidung weist das Berufungsgericht Paris zunächst darauf hin, dass unter Zugrundelegung von Artikel 1218 des französischen Zivilgesetzbuchs die Zahlungspflicht nur ausgesetzt, nicht aber der geschuldete Betrag reduziert werden könne.
Was die Einstufung der Pandemie als Ereignis höherer Gewalt angeht, vertritt das Berufungsgericht die Auffassung, dass „die vollständige Schließung des Betriebs des Mieters vor dem Hintergrund des gesundheitlichen Notstands und des Lockdowns als höhere Gewalt angesehen werden kann, so dass hinsichtlich der Fälligkeit der ab dem 11. März 2020 zu zahlenden Mieten ein ernsthafter Einwand besteht.“
Das Berufungsgericht entschied hingegen, dass weder die Gelbwestenkrise noch die Streiks im öffentlichen Transportwesen von ihrem Umfang her als höhere Gewalt anzusehen seien und dass der Mieter zur Zahlung aller Miete bis zum 11. März 2020 sowie zur Zwangsräumung wegen fehlender Vertragstreue (ausgebliebene Mietzahlungen „außerhalb des Lockdowns“) zu verurteilen sei.
In diesem Fall, in dem das Berufungsgericht betreffend eine einstweilige Verfügung angerufen wurde, erkannte es zwar an, dass eine Geschäftsschließung als ein Fall höherer Gewalt angesehen werden könnte und daher einen ernsthaften Einwand gegen die Mietzahlungspflicht begründen könnte, doch war es nicht für zuständig, um abschließend über den Erfolg dieser Argumentation zu entscheiden. Dies sei dem Richter im Hauptsacheverfahren vorbehalten.
In einem Hauptsacheverfahren hat das Berufungsgericht Grenoble eine restriktivere Auffassung zur Qualifizierung eines Sachverhalts als höhere Gewalt vertreten (Berufungsgericht Grenoble, 11. November 2020, Nr. 16/04533).
In dem betreffenden Fall betrieb der Mieter eine Ferienresidenz. Er hielt der Klage des Vermieters auf Zahlung der Miete entgegen, dass er aufgrund des pandemiebedingten Öffnungsverbots die Einrede der Nichterfüllung sowie höhere Gewalt geltend machen könne.
In seiner Entscheidung wies das Berufungsgericht den Antrag des Mieters aus folgenden Gründen ab:
- Zur Einrede der Nichterfüllung: Der Mietvertrag hatte die Zahlung der Mieten nicht von einer bestimmten Belegung der Räumlichkeiten oder von einer Belegungsrate abhängig gemacht, und der Vermieter hatte keine seiner vertraglichen Verpflichtungen gegenüber dem Mieter verletzt.
- Bezüglich höherer Gewalt: Der Mieter hat keine finanziellen Schwierigkeiten nachgewiesen, welche die Erfüllung der Mietzahlungsverpflichtung unmöglich machten, so dass die Pandemie keinen unabwendbaren Charakter aufwies. Darüber hinaus stellte das Berufungsgericht fest, dass dem Mieter nicht alle Aktivitäten untersagt waren, da eine Vermietung auf Dauer und zu Wohnzwecken möglich war.
2. Störung der Geschäftsgrundlage (Unvorhersehbarkeitstheorie)
Was die Anwendung des Artikels 1195 des französischen Zivilgesetzbuchs im Hinblick auf die Änderung der Miethöhe wegen einer Störung der Geschäftsgrundlage (Unvorhersehbarkeitstheorie) betrifft, vertreten die Gerichte in Frankreich unterschiedliche Auffassungen.
In seinem Urteil Nr. 2020/035120 vom 11. Dezember 2020 hat das Handelsgericht Paris entschieden, dass dem Antrag des Mieters auf Herabsetzung des Mietzinses aufgrund der in Artikel 1195 des französischen Zivilgesetzbuchs vorgesehenen Störung der Geschäftsgrundlage nicht stattgegeben werden könne, da der vertraglich vereinbarte Mietzins während der Ereignisse gleich geblieben sei und daher nicht, wie vom Gesetz bestimmt, „übermäßig angestiegen“ sei.
Im Gegensatz dazu vertrat das Landgericht Paris (Tribunal Judiciaire de Paris) in seinem Urteil Nr. 20/55750 vom 21. Januar 2021 die Auffassung, dass der gewerbliche Mieter berechtigt ist, eine Störung der Geschäftsgrundlage geltend zu machen, um eine Neufestsetzung des Mietzinses zu erwirken. Jedoch hat das Gericht ausgeführt, dass ein solcher Sachverhalt nicht in den Zuständigkeitsbereich des Richters im Eilverfahren, sondern in denjenigen des Richters im Hauptsacheverfahren fällt.
Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass Artikel 1195 des französischen Zivilgesetzbuchs es den Parteien eines nach dem 1. Oktober 2016 abgeschlossenen Mietvertrags ermöglicht, die Vertragsbedingungen neu zu verhandeln und im Fall des Scheiterns die Angelegenheit vor Gericht zu bringen. Die Vorschrift erlaubt jedoch keine Befreiung von der Zahlungspflicht; die Parteien müssen während der Neuverhandlung weiterhin ihre Verpflichtungen erfüllen.
3. Grundsatz von Treu und Glauben
Der Grundsatz von Treu und Glauben hat sich in den letzten Monaten auch in der Rechtsprechung im Rahmen von zwei Angelegenheiten herauskristallisiert, in denen der gewerbliche Vermieter versuchte, in einem Eilverfahren einen Beschluss zu erwirken, der seinen Mieter zur Zahlung der Miete für das zweite Quartal 2020 verpflichtete (Gericht Paris, 26. Oktober 2020, Urteile Nr. 20/53713 und Nr. 22/55901).
Der Richter im einstweiligen Rechtschutzverfahren hat in beiden Fällen festgestellt, dass die gesetzlichen und verordnungsrechtlichen Bestimmungen über die Verlängerung der Fristen, die während des Zeitraums des gesundheitlichen Notstands ablaufen und die darauf abzielen, dem Vermieter während dieses Zeitraums Sanktions- und Vollstreckungsmaßnahmen im Hinblick auf die Eintreibung der Miete zu untersagen, nicht bewirken, die Pflicht der Mietzahlung auszusetzen.
Außerdem wies das Gericht darauf hin, dass hinsichtlich der Verpflichtung zur Zahlung eines Geldbetrages das Argument der höheren Gewalt allgemein unzulässig sei und dass auch nicht nachgewiesen worden sei, dass der Vermieter seine Verpflichtung zur Übergabe der Räumlichkeiten verletzt habe; die aktuelle Pandemie sei dem Vermieter nicht anzulasten.
Der Richter im einstweiligen Rechtschutzverfahren war jedoch der Auffassung, dass die Parteien angesichts des Grundsatzes von Treu und Glauben bei der Erfüllung von Verträgen verpflichtet sind, in Ausnahmefällen zu prüfen, ob die vorliegenden Umstände nicht eine Anpassung der Modalitäten der Erfüllung ihrer jeweiligen Verpflichtungen erforderlich machen.
In diesen Fällen, die dem Richter im einstweiligen Rechtschutzverfahren vorlagen, waren die jeweiligen Tätigkeitsbereiche der Mieter durch den Lockdown stark beeinträchtigt worden und rechtfertigten Verhandlungen mit ihrem Vermieter, um eine einvernehmliche Lösung zu erreichen.
Der Richter im einstweiligen Rechtschutzverfahren leitete daraus ab, dass dem Antrag auf Zahlung der Miete für das 2. Quartal 2020 (Zeitraum der behördlichen Schließung bestimmter Geschäfte mit Publikumsverkehr) daher eine ernsthafte Einwendung entgegenstehe, und wies den Antrag des Vermieters ab.
4. Verlust der Mietsache
Ein neues Argument wurde kürzlich von gewerblichen Mietern unter Zugrundelegung von Artikel 1722 des französischen Zivilgesetzbuchs geltend gemacht.
In dieser Vorschrift heißt es: „Wird die Mietsache während der Laufzeit des Mietvertrags durch Zufall ganz zerstört, so wird der Mietvertrag von Rechts wegen beendet; wird sie teilweise zerstört, so kann der Mieter je nach den Umständen entweder eine Minderung des Preises oder die Beendigung des Mietvertrags fordern.“
In der französischen Rechtsprechung wird seit langem anerkannt, dass ein Schaden im Sinne dieser Vorschrift immaterieller Natur sein kann und darin bestehen kann, dass es dem Mieter schlicht unmöglich ist, die gemieteten Räumlichkeiten zu nutzen.
Diese Lösung wurde in einer Entscheidung des Vollstreckungsrichters am Landgericht Paris (Tribunal Judiciaire de Paris) vom 20. Januar 2021 (Nr. 20/80923) bekräftigt, in der er sie auf Fälle anwandte, in denen das Geschäft des betroffenen Mieters geschlossen worden war. Er hat somit eine auf Antrag des Vermieters durchgeführte Pfändung zur Eintreibung nicht gezahlter Mieten für unwirksam erklärt.
Der Vollstreckungsrichter vertrat dabei folgende Ansicht: „Die während der Laufzeit des Mietvertrags aufgrund einer behördlichen Entscheidung entstandene rechtliche Unmöglichkeit, die gemieteten Räumlichkeiten zu nutzen, ist mit jener Situation vergleichbar, die in der oben genannten Vorschrift beschrieben ist (und die zur Folge hat, dass der Mieter von der Verpflichtung zur Zahlung der Miete befreit ist, solange er die gemietete Sache nicht nutzen kann), und zwar unabhängig von der [seitens des Vermieters] geltend gemachten Haftungsklausel.“
Gegen diese Entscheidung wird höchstwahrscheinlich Berufung eingelegt werden.
Sollte diese Entscheidung in der Berufungsinstanz bestätigt werden, könnten sich die Vermieter veranlasst sehen, auf die Geltendmachung fälliger Mieten für Zeiten der behördlichen Schließung von Geschäftsräumen zu verzichten.
Hierbei handelt es sich jedoch um erste Entscheidungen in derartigen Fallkonstellationen und (noch) nicht um ständige höchstrichterliche Rechtsprechung. Es ist daher nicht auszuschließen, dass andere Gerichte, wie bereits bezüglich der Störung der Geschäftsgrundlage geschehen, abweichende Entscheidungen erlassen werden.
In jedem Fall geht aus der jüngeren Rechtsprechung hervor, dass der Grundsatz von Treu und Glauben bei der Beurteilung von Streitigkeiten betreffend die Erfüllung vertraglicher Pflichten im Einzelfall durchaus entscheidend ist.
Hier finden Sie weitere Informationen zum Gewerbemietvertrag in Frankreich:
- Der Gewerbemietvertrag in Frankreich ("bail commercial")
- Der gewerbliche Kurzmietvertrag in Frankreich
- Schutz des gewerblichen Mieters in Frankreich
Für weitere Informationen stehen Ihnen unsere deutsch-französischen Rechtsanwälte selbstverständlich gerne zur Verfügung.
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