Handelsvertretervertrag in Frankreich: Anspruch auf Entschädigung bei nach der Kündigung entdecktem schweren Fehlverhalten des Handelsvertreters (agent commercial)
In einem Urteil vom 16. November 2022 hat das französische Kassationsgericht eine Änderung seiner bisherigen Rechtsprechung im Zusammenhang mit Handelsvertreterverträgen vorgenommen.
Nach französischem Recht hat der Handelsvertreter (agent commercial) grundsätzlich einen Anspruch auf eine Entschädigungszahlung bei Vertragsende (indemnité de rupture) in Höhe von zwei Jahresprovisionen, die aus dem Durchschnitt der Provisionen der letzten drei Jahre berechnet werden (Artikel L. 134-12 des französischen Handelsgesetzbuchs, ständige Rechtsprechung).
Das französische Recht führt in Artikel L. 134-13 des Handelsgesetzbuchs abschließend die Fälle auf, in denen der Handelsvertreter diese Entschädigungszahlung verliert:
- Beendigung des Vertrags durch das Unternehmen (Prinzipal) aufgrund eines schweren Fehlverhaltens (faute grave) des Handelsvertreters
- Beendigung des Vertrags durch den Handelsvertreter (außer wenn die Beendigung auf ein Verhalten des Unternehmers, das Alter des Handelsvertreters oder eine Krankheit des Handelsvertreters zurückzuführen ist)
- Übertragung der Rechte und Pflichten aus dem Handelsvertretervertrag an einen Dritten im Einvernehmen mit dem Unternehmen (Prinzipal).
In dem vom frz. Kassationsgericht (Cour de Cassation) entschiedenen Fall wurde ein Handelsvertretervertrag vom Handelsvertreter selbst gekündigt. Der Handelsvertreter verklagte das Unternehmen dann auf Zahlung der Vertragsbeendigungsentschädigung sowie der Entschädigung für verlorene Einkünfte während der Kündigungsfrist.
Das Berufungsgericht hatte die Ansprüche des Handelsvertreters abgewiesen.
Der Handelsvertreter machte in der Revision vor dem Kassationsgericht geltend, dass das Berufungsgericht seinen Antrag auf Zahlung einer Vertragsbeendigungsentschädigung aufgrund einer falschen Auslegung der Artikel L. 134-12 und L. 134-13 des französischen Handelsgesetzbuchs abgelehnt habe.
Zur Begründung verwies der Handelsvertreter darauf, dass die nationalen Bestimmungen, die in Frankreich zur Umsetzung einer EU-Richtlinie erlassen worden waren, im Lichte dieser EU-Richtlinie auszulegen seien, und zwar insbesondere dann, wenn eine solche Auslegung bereits vom Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) vorgenommen worden ist.
Gemäß dem frz. Kassationsgericht waren im zu entscheidenden Fall die Artikel L. 134-12 und L. 134-13 des französischen Handelsgesetzbuchs, die zur Umsetzung der Richtlinie 86/653/EWG vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter erlassen wurden, dahingehend auszulegen, dass nur ein solches schweres Fehlverhalten, das vor der Beendigung des Vertrags begangen wurde und dem Unternehmen (Prinzipal) vor der Vertragsbeendigung bekannt wurde, das Recht des Handelsvertreters auf Entschädigungszahlung ausschließt.
Unter Bezugnahme auf die Artikel L. 134-12 Absatz 1 und L. 134-13 des frz. Handelsgesetzbuchs, die die Artikel 17 § 3 und 18 der Richtlinie 86/653/EWG vom 18. Dezember 1986 umsetzen, hob das Kassationsgericht das Urteil des Berufungsgerichts auf und nahm eine Änderung seiner bisherigen Rechtsprechung vor:
Seither kann einem Handelsvertreter, der vor der Kündigung des Vertrags ein schwerwiegendes Fehlverhalten begangen hat, welches aber dem Unternehmen (Prinzipal) erst nach der Kündigung bekannt wird (so dass also dieses später entdeckte Fehlverhalten nicht zu der konkreten Kündigung geführt haben kann), der Anspruch auf Entschädigungszahlung nicht entzogen werden.
Bis zu dieser Entscheidung aus dem November 2022 hatte das frz. Kassationsgericht stets die Auffassung vertreten, dass ein schwerwiegendes Fehlverhalten des Handelsvertreters während der Vertragsdurchführung – einschließlich eines solchen, das vom Prinzipal erst nach Beendigung der Vertragsbeziehungen entdeckt wurde – dazu führt, dass der Handelsvertreter seinen Anspruch auf Entschädigungszahlung verliert (Kassationsgericht, Handelskammer, 1. Juni 2010, Nr. 09-14.115; Kassationsgericht, Handelskammer, 24 November 2015, Nr. 14-17.747; Kassationsgericht, Handelskammer, 19. Juni 2019, Nr. 18-11.727).
In Anbetracht der Auslegung der Artikel L. 134-12 und L. 134-13 des französischen Handelsgesetzbuchs im Lichte der EU-Richtlinie 86/653/EWG sowie der einschlägigen Entscheidungen des EuGH (EuGH, 28. Oktober 2010, C-203/09, Volvo Car Germany GmbH; EuGH, 19. April 2018, C-645/16, CMR gegen Demeures terre et tradition SARL) sah sich das Kassationsgericht veranlasst, seine Rechtsprechung zu ändern. Das Gericht führte aus, dass ein Handelsvertreter, der vor der Beendigung des Vertrags eine schwere Vertragsverletzung begangen hat, auf die im Kündigungsschreiben nicht Bezug genommen wurde und die vom Unternehmen (Prinzipal) erst nach der Kündigung entdeckt wurde (so dass die Vertragsverletzung die Beendigung nicht verursacht hat), den Anspruch auf Entschädigungszahlung nicht verliert.
Diese bemerkenswerte Änderung der Rechtsprechung zum Handelsvertreter in Frankreich wird in den kommenden Jahren sehr wahrscheinlich Gegenstand von Auseinandersetzungen zwischen Unternehmen und ihren Handelsvertretern werden.
Für weitere Informationen stehen Ihnen unsere deutsch-französischen Rechtsanwälte selbstverständlich gerne zur Verfügung.
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